Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert

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Titel
Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert.


Herausgeber
Staatsarchiv des Kantons Luzern
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
746 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anne-Marie Dubler

Die 2013 im Chronos Verlag erschienene zweibändige Luzerner Kantonsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist in jeder Beziehung ein Schwergewicht. Unter der Projektleitung von Jürg Schmutz (Staatsarchivar) und Katja Hürlimann (Redaktorin) haben 21 Autorinnen und Autoren in den fünf Bereichen «Raum und Bevölkerung», «Staat und Politik», «Wirtschaft», «Gesellschaft» sowie «Kultur und Religion» mit insgesamt 20 thematischen Beiträgen eine breite Darstellung des epochalen Wandels geschaffen, der Luzern im 20. Jahrhundert ergriffen hatte. In die thematisch gegliederte Gesamtdarstellung bieten Schmutz und Hürlimann mit ihrer Bildabfolge «Das Jahrhundert in Bildern» einen gelungenen Einstieg. Mit Bildern, Bildlegenden und Kommentaren wird das dominierende Thema des geseilschaftlichen Wandels unter dem Druck von wirtschaftlichen Boomzeiten, von Kriegen und Krisen und mit der Globalisierung der letzten Jahrzehnte illustriert: Es sind Fotos aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg, solche aus den dreissiger und folgenden Kriegsjahren, aus der Zeit des Nachkriegsbooms und der Ölkrise, von Protestbewegungen ab 1968 und von Auswüchsen der Globalisierung. Mit dem gekonnten Beitrag «Das 20. Jahrhundert - Ein Essay» bietet Kurt Messmer am Schluss einen letzten chronologischen Gang durch die Kantonsgeschichte.

Gemäss dem Publikationskonzept sind die rund 15 bis 30 Seiten starken thematischen Beiträge des Hauptteils wissenschaftlich fundiert. Sie sind teils Resultäte aus eigener Forschung der Autoren, teils basieren sie auf neuester Literatur und profitieren davon, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts allgemein im Trend der universitären Forschung liegt. Ein zweites Erfordernis war die Leserfreundlichkeit: Hierzu dienen unter anderem eingestreute Lebensbilder von herausragenden Persönlichkeiten oder Architekturbeispiele aus dem Luzerner Hotel-, Kirchen-, Spital- und Schulbau. Sie lockern dichte Texteinheiten auf und veranschaulichen Zeitumstände. Beeindruckend reich ist die Bilddokumentation (Bildredaktorin: Martina Akermann): Die mit Bildlegenden versehenen 364 Abbildungen bieten eine treffliche Begleitung und Unterstützung der Texte. Ihre grosse Zahl war eine Herausforderung für die Buchgestalter (velvet, Michel Steiner). Sie begegneten dieser mit einem flexiblen Layout-Konzept, das auch kleinformatige Abbildungen in den Lauftext integriert, denn nebst den Fotos waren auch zahlreiche Grafiken, Tabellen und Karten unterzubringen. Grossformatige Grafiken, Tabellen und Karten erscheinen bei beiden Bänden in einem Anhang.

Die seriöse Quellenforschung - gleich ob Schriftquellen, Statistiken, Bildmaterial oder Oral History (Befragung von Zeitzeugen) - bringt neue Erkenntnisse vom Verlauf des Entwicklungsprozesses, dem der Kanton Luzern, einstiger Vorort der katholischen Schweiz, im 20. Jahrhundert ausgesetzt war. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an stand der Kanton im Bannkreis von Kulturkampf und katholischem Konservatismus und damit im Clinch zur Bildungs- und Wirtschaftsfreundlichkeit der Liberalen. Konflikte zwischen 'Roten' (Katholisch-Konservative) und 'Schwarzen' (Liberale) dominierten Politik und Gesellschaft bis in die 1960er Jahre und trennten die tendenziell konservative Landschaft von der liberalen Stadt. Zu Aufbrüchen zwischen diesen historischen Fronten kam es erstmals 1917, als die unter Teuerung leidende Arbeiterschaft aus den industrialisierten Vororten Luzerns demonstrierend vor das Regierungsgebäude zog. Aber erst 1959 gelangte mit Anton Muheim der erste Sozialdemokrat in die Regierung. In den späten 1960er Jahren formierten sich Protestbewegungen: Frauen verlangten Gleichstellung in Bildung, Karriere und Politik; sie erreichten das Frauenstimmrecht 1970. CVP-Ständerätin Josi Meier und Nationalrätin Judith Stamm erlangten in der Folge nationale Beachtung. In Emmen wandelte sich die 68er-Bewegung zur umweltbewussten Sozialdemokratie (Bd. 2, S. 42), ab 1987 mit Paul Huber als SPRegierungsrat. Neue soziale Bewegungen wie die POCH schafften den Weg ins Parlament (Bd. 2, S. 219f.). In der Wirtschaftskrise der 1990er Jahre wich die historische Konfrontation der Konservativen und Liberalen und damit auch der Stadt-Land-Gegensatz zugunsten neuer Vielgestaltigkeit in Politik und Gesellschaft.

Über weite Strecken erinnern die Konflikte an solche in Nachbarkantonen. Schweizerische und luzernische Entwicklungen, ob in der Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung, in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft oder bei der Mobilität, stehen denn auch öfters im Vergleich, auf Abweichungen wird verwiesen. Hervorgehoben wird etwa der direkte Einfluss Luzerns auf die Schonung von Siedlungen und Umwelt beim schweizerischen Autobahnbau (Bd. 1, S. 388). Die Einführung des Frauenstimmrechts fand im Kanton Luzern ein Jahr vor jener der Schweiz (1971) statt.

Dies sind die im ersten Band des Hauptteils behandelten Themen und deren Autorinnen und Autoren:
Band 1: Bevölkerungsentwicklung (Fridolin Kurmann); Siedlungsentwicklung (Emanuel Amrein); Kulturlandschaft -verplant oder geschützt? (Daniel Bitterli); Staat und Verwaltung (Hans-Rudolf Galliker); Entstehung und Entwicklung des Sozialstaats (Thomas Meier); Die politischen Parteien (Markus Furrer); Schule und Bildung (Raffael Fischer); Strukturen und Konjunkturen (Gisela Hürlimann); Industrie - Im Dienst des Kapitals und der Menschen (Hanspeter Lussy); Dienstleistungen (Thomas Frey); Landwirtschaft - Im Sog des Konsums (Peter Moser); Verkehr und Mobilität (Hans-Ulrich Schiedt, Thomas Frey).

Nach dem gezielten Ausbau des Bildungswesens erfolgte 2000 die Gründung der Universität Luzern durch einen Volksentscheid (Jastimmen-Anteil 72,26%: Bd. 2, S. 254) als schweizerisches Unikum. Im zweiten Band werden die im Hauptteil behandelten Themen in einer hilfreichen Übersicht zusammengefasst, inklusive Informationen zu den Autorinnen und Autoren (Themen: Bd. 2, S. 299-306; Autorschaft: Bd. 2, S. 297f.).

Band 2; Veränderungen und Kontinuitäten der gesellschaftlichen Entwicklung (Martin Lengwiler, Daniel Kauz); Öffentliche Auseinandersetzungen - Aufbruch- und Protestbewegungen (Elisabeth Joris); Alltagswelten (Beatrice Schumacher); Geselliges Leben (Beatrice Schumacher); Kultur - Zwischen Enge und Aufbruch (Martina Akermann); Luzerner Geschichtskultur (Guy P. Marchai); Kirchen und Religionen (Markus Ries); Öffentliche Kommunikation – Die Luzerner Medienlandschaft (Max Huber).

Die gewichtige Luzerner Kantonsgeschichte ist kein einfaches 'Lesebuch'. In fünfjähriger Forschung entstand vielmehr eine reichhaltige Sachpublikation, die den Fachhistoriker wie den geschichtsinteressierten Laien zum Lesen wie zum Nachschlagen einlädt.

Merkwürdig sind allerdings gewisse Auslassungen: So etwa fehlt selbst im Beitrag «Schule und Bildung» (Bd. 1, S. 245-281) die von der Luzerner Kantonalbank gestiftete und finanzierte Luzerner Forschungsstelle für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1973-1982) als nichtuniversitäres Forschungsinstitut, an dem Studierende und Graduierte mit Forschungsaufträgen verpflichtet waren. Nirgends erwähnt werden der Initiant der Forschungsstelle, a. Staatsarchivar Fritz Glauser (t2015), und die von ihm ins Leben gerufene Publikationsreihe Luzerner Historische Veröffentlichungen (LHV)1, in der die meisten Arbeiten aus der Forschungsstelle erschienen, auch jene der Leiterin der Forschungsstelle2 und jene ihres Stellvertreters3.

1 https://staatsarchiv.lu.ch/kantonsgeschichte/publikationen/lhv (24. November 2015).
2 Ausserhalb der Reihe erschien die vertragsmässig verfasste Gesamtdarstellung: Anne-Marie Dubler, Geschichte der Luzerner Wirtschaft. Volk, Staat und Wirtschaft im Wandel der Jahrhunderte, Luzern 1983.
3 Ausserhalb der Reihe erschien: Martin Körner, Banken und Versicherungen im Kanton. Strukturen, Wachstum, Konjunkturen, Luzern 1987.

Zitierweise:
Anne-Marie Dubler: Rezension zu: Staatsarchiv des Kantons Luzern (Hg.), Der Kanton Luzern im 20. Jahrhundert, 2 Bände, Zürich: Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 66 Nr. 2, 2016, S. 327-329.